Das britische Birmingham fristet seit jeher ein Dasein im Schatten der Weltstadt London – nicht umsonst verliehen die „Brummies“, wie die Einwohner augenzwinkernd genannt werden, ihrer Millionenmetropole im Zentrum Englands mit Stolz den Namen „Second City“. Zweite Plätze wecken im Sport meist eher das schale Gefühl, dass da jemand noch besser war. Über den zweiten Platz allerdings wäre die deutsche Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft 2010 in Birmingham, Ausrichter der Rolli-WM in diesem Jahr, mehr als froh gewesen – für die Herren sprang nicht einmal ein Platz im Flieger dorthin heraus, man hatte sich nicht qualifiziert.
2005 fanden bereits die U22-Weltmeisterschaften in der Mitte Englands statt, die das DRS-Team immerhin als fünfter abschloss und mit dem ehemaligen Wetzlarer Jens Wibbelt sogar den MVP – den wertvollsten Spieler des Turniers – stellte. Birmingham, soviel ist klar, ist Rollstuhlbasketball-Hochburg in Europa. So wie Wetzlar? Mitnichten. Nach dem Krieg wurde die zerbombte Industriestadt relativ barrierefrei wieder aufgebaut, in den letzten zehn Jahren kam ein gehöriger Facelift dazu, der dem Stadtkern mit mehr Kanalstrecke als Venedig und den typisch englischen Backsteinhäuschen ein modern-rustikales Antlitz verleiht.
Hinzu kommt die rollstuhlerprobte Infrastruktur, flankiert von Sportstätten, die auch in der Vorbereitung für Olympia 2012 in London wieder genutzt werden. Eine Stadt, wie man sie sich als Rollstuhlfahrer eigentlich nur wünschen kann. Man kann zwei Minuten vor Abfahrt des Zuges zur Bahnstation brettern und einem wird dennoch freundlich geholfen, zwei Stationen weiter wartet dann der nächste Assistent bereits mit einer Rampe – in Deutschland wäre das ohne 48 Stunden Vorlaufzeit und amtlichen Formalia undenkbar.
Perfektes Terrain für einen rollenden Reporter wie Jan Kampmann, der Kopf ist dem Rad immer einen Moment raus, beide sind meistens keine Minute zu früh, aber auf den Punkt da wo es brennt – was Berichtenswertes angeht. Der ehemalige RSV-Akteur, in Mittelhessen geboren, in Gießen den Bachelor-Abschluss gemacht, danach ein halbes Jahr für den WDR in Köln tätig, hat nun den nächsten Schritt gewagt und ist zum Studium in den Flieger über den großen Teich gestiegen.
„International Journalism“ steht auf dem Etikett des Studiengangs – drin ist eine Wundertüte. Von Globalisierungskritik über Livestreaming vom original Frankfurter Weihnachtsmarkt aus der „Second City“ bis zu Wein und Häppchen beim TV-Sender Channel4 in London war bislang alles dabei. Langweilig wird es nie und genau das war der Plan des mittlerweile 24-Jährigen, der mit 18 das erste mal das RSV-Trikot überstreifen durfte. Zwar zeigten sich die Birmingham „Black Cats“, wie der örtliche Rollstuhlbasketball-Verein nennt, begeistert von der Idee den deutschen Legionär für eine Saison in ihre Fittiche zu nehmen, aber dafür fehlte Kampmann bislang schlichtweg die Zeit. So sitzt im Stuhl der ehemaligen Nummer Sechs des RSV allenfalls Mina Mojtahedi, die Kampmanns Vehikel als Ersatz-Gefährt für den Champions Cup mit nach Istanbul genommen hat.
Treu bleibt der zuletzt für die zweite Mannschaft auf Korbjagd gehende Student seiner Funktion als Wegbereiter dennoch. Derzeit arbeitet der Nachwuchsjournalist, neben der Redakteurstätigkeit für eine internationale Sport-Webseite und dem Studium an einem ambitionierten Projekt, dass weltweit Menschen mit Ansprüchen an gewisse Barrierfreiheiten das Leben erleichtern könnte: Kampmann reisst unter dem Arbeitstitel „Go Genie“ (www.gogenie.org) sämtliche Barrieren ein und das ausgerechnet in der Stadt, die eigentlich recht behindertenfreundlich von der Insel grüßt.
„Ich bin immer heilfroh hier und denke nicht im Ansatz daran, mich zu beschweren, ganz undeutsch“, lacht Kampmann – mit Verweis darauf, dass er mittlerweil schon viel mehr Brite sei. Die nehmen das Leben halb so schwer, Termine und Pünktlichkeit nicht ganz so genau und reiben sich über die deutsche Beschwerde-Mentalität immer wieder die Augen. Seine Projektpartnerin Alison Smith, die sich seit bald 20 Jahren für Barriere- und Diskriminierungsfreiheit über digitale Medien engagiert, ist da ganz anders: „Alison ist Schottin und hat gegenüber den Engländern einen rauen Ton drauf, hat die ersten Rollstuhl-Unfreundlichkeiten immer schon per iPhone über den Äther gejagt, wenn ich noch gar nicht bei den Treppenstufen angekommen bin.“
Während sich Smith also als Profi mit der Organisation und den harten Fakten auseinandersetzt, übernimmt der deutsche Student das sogenannte „Community Management“. „Ich zeige den Leuten, dass das Projekt bahnbrechend sein könnte, wenn sie nur alle mitmachen – mit zwei Klicks ist man angemeldet, mit weiteren zwei hat man schon Infos hochgeladen“, meint Kampmann. Nützlich sei das nicht nur für Rollstuhlfahrer wie bei wheelmap.org, einem Partnerprojekt aus Deutschland, sondern „Go Genie“ kümmer t sich auch um die Bedürfnisse seh- und höreingeschränkter Menschen, ja sogar Müttern mit Kinderwagen oder Menschen die WiFi-Empfang im Café benötigen.
„Über unsere Mobile App kann jeder übers Handy in Sekundenschnelle Infos über das gewünschte Kino, Restaurant, Theater oder was auch immer bekommen“, ergänzt er. Weil die Webseite bereits Lokalitäten in Orten auf aller Welt gespeichert hat und nur die Daten fehlen, ist die Mitarbeit auf der ganzen Welt gefragt – auch in Deutschland. „Da weiß ich natürlich, dass das komplette RSV-Umfeld ein unheimliches Wissenspotential hat“, glänzen die Augen des 24-Järhrigen: „Über die Jahre haben Rollis und Menschen mit anderen Einschränkungen und ihre Angehörigen einen Berg an Wissen über Barrieren angehäuft, da wären wir heilfroh, wenn ein paar etwas beisteuern würden.“
Ganz umsonst ist das für die Nutzer übrigens auch nicht: Im Gegenzug beteiligt sich auch eine wachsende Zahl an Geschäften und Lokalitäten, welche die Plattform als ideale Möglichkeit sehen, Menschen mit speziellen Bedürfnissen und ihr soziales Umfeld als Gäste oder Kunden zu gewinnen. Für die User winken damit reduzierte Tickets, Freigetränke, Gutscheine und ähnliches. Noch wird Tag für Tag an der Webseite gearbeitet, dennoch kann und soll bereits fleißig eingetragen werden. Über eine „Locals“-Kampagne sollen an allen möglichen Orten der Welt Botschafter gewonnen werden, die als Pioniere Teil des „Go Genie“-Teams werden und in ihren Orten Menschen mobilisieren mitzuhelfen. Bewerben kann sich jeder einfach über die Facebook-Seite oder per E-Mail.
Mit dem Mobilfunkunternehmen NOKIA und der gemeinnützigen Organisation NESTA konnten bereits namhafte Sponsoren gewonnen werden, nun geht es vor allem um internationale Aufmerksamkeit und darum, dass jeder mitmacht – denn jeder Mensch hat einen unheimlich großen Fundus an Wissen über kleine Barrieren, durch dessen Mitteilung er den Alltag der Betroffenen erleichtern kann. Kampmann weiß das aus Erfahrung: „Auch hier gibt es Schikanen. Es gibt zwar überall eine Rampe oder einen Lift auf- und abwärts, oder jemand der einen Reifen flicken kann, man muss nur wissen wo. So bin ich schon, ganz typisch, wochenlang mit einem Platten hier rumgegurkt oder kilometerweise über Brücken gerollt, bis ich den Lift runter zum Kanal gefunden habe.“
Wenn die Zuschauer – darunter sicher auch viele Rollstuhlfahrer – vom 30. August bis 8. September die Paralympics auf der großen Flachbildleinwand am Puls Birminghams, am „Victoria Square“ verfolgen, soll „Go Genie“ schon fester Bestandteil in der Eventplanung vieler Besucher sein. Denn auch hier, obgleich es manchmal nach Rolli-Schlaraffenland klingt, auch so seine Komplikationen: Schon ein paar mal, als er mit dem Zug in seinen kleineren Stadtteil „Perry Barr“ zurückkam, war die Bahnstation geschlossen – und damit kam Kampmann als Rollstuhlfahrer nicht mehr heraus, da nur Treppen zurückführten wenn das Tickethäuschen die Läden dicht macht. Doch da gibt es ja noch die Engländer: immer nett und hilfsbereit, oft muskelbepackt und gut tättowiert und sogar nicht am meckern. Denn wer meterweise Bierkästen schleppen kann, für den ist ein Kampmann nicht einmal die Last eines Sechserpacks…